Mittwoch, 1. Mai 1991

Johannes Paul II. warnt vor der "Vergötzung des Marktes"

Die Behauptung, die Niederlage des sogenannten »realen Sozialismus« lasse den Kapitalismus als einziges Modell wirtschaftlicher Organisation übrig, ist unhaltbar. [...]

Die marxistische Lösung ist gescheitert, aber in der Welt bestehen nach wie vor Formen der Ausgrenzung und Ausbeutung, insbesondere in der Dritten Welt, sowie Erscheinungen menschlicher Entfremdung, besonders in den Industrieländern. Massen von Menschen leben noch immer in Situationen großen materiellen und moralischen Elends. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems beseitigt sicher in vielen Ländern ein Hindernis in der sachgemäßen und realistischen Auseinandersetzung mit diesen Problemen, aber das reicht nicht aus, um sie zu lösen. Es besteht die Gefahr, daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die ihre Lösung in einem blinden Glauben der freien Entfaltung der Marktkräfte überläßt. [...]

Die wirtschaftliche Freiheit ist nur ein Element der menschlichen Freiheit. Wenn sie sich für autonom erklärt, das heißt, wenn der Mensch mehr als Produzent bzw. Konsument von Gütern, nicht aber als ein Subjekt gesehen wird, das produziert und konsumiert, um zu leben, dann verliert sie ihre notwendige Beziehung zum Menschen, den sie schließlich entfremdet und unterdrückt. [...]

Nicht das Verlangen nach einem besseren Leben ist schlecht, sondern falsch ist ein Lebensstil, der vorgibt, dann besser zu sein, wenn er auf das Haben und nicht auf das Sein ausgerichtet ist. Man will mehr haben, nicht um mehr zu sein, sondern um das Leben in Selbstgefälligkeit zu konsumieren. Es ist daher notwendig, sich um den Aufbau von Lebensweisen zu bemühen, in denen die Suche nach dem Wahren, Schönen und Guten und die Verbundenheit mit den anderen für ein gemeinsames Wachstum jene Elemente sind, die die Entscheidungen für Konsum, Sparen und Investitionen bestimmen. [...]

Es ist Aufgabe des Staates, für die Verteidigung und den Schutz jener gemeinsamen Güter, wie die natürliche und die menschliche Umwelt, zu sorgen, deren Bewahrung von den Marktmechanismen allein nicht gewährleistet werden kann. Wie der Staat zu Zeiten des alten Kapitalismus die Pflicht hatte, die fundamentalen Rechte der Arbeit zu verteidigen, so haben er und die ganze Gesellschaft angesichts des neuen Kapitalismus nun die Pflicht, die gemeinsamen Güter zu verteidigen, die unter anderem den Rahmen bilden, in dem allein es jedem einzelnen möglich ist, seine persönlichen Ziele auf gerechte Weise zu verwirklichen.
Hier stoßen wir auf eine neue Grenze des Marktes: Es gibt wichtige menschliche Erfordernisse, die sich seiner Logik entziehen. Es gibt Güter, die auf Grund ihrer Natur nicht verkauft und gekauft werden können und dürfen. [...]

Das Eigentum an Produktionsmitteln ist gerechtfertigt, wenn es einer nutzbringenden Arbeit dient. Es wird hingegen rechtswidrig, wenn es nicht aufgewertet wird oder dazu dient, die Arbeit anderer zu behindern, um einen Gewinn zu erzielen, der nicht aus der Gesamtausweitung der Arbeit und des gesellschaftlichen Reichtums erwächst, sondern aus ihrer Unterdrückung, aus der unzulässigen Ausbeutung, aus der Spekulation und aus dem Zerbrechen der Solidarität in der Welt der Arbeit. Ein solches Eigentum besitzt keinerlei Rechtfertigung. [...]

Die Verpflichtung, im Schweiße seines Angesichtes sein Brot zu verdienen, besagt gleichzeitig ein Recht. Eine Gesellschaft, in der dieses Recht systematisch verweigert wird, in der es die wirtschaftspolitischen Maßnahmen den Arbeitern nicht ermöglichen, eine befriedigende Beschäftigungslage zu erreichen, kann weder ihre sittliche Rechtfertigung noch den gerechten sozialen Frieden erlangen. [...]

Der Staat kann sich nicht darauf beschränken, nur für einen Teil der Staatsangehörigen — nämlich die wohlhabenden und vom Schicksal begünstigten — zu sorgen, den andern aber, der zweifellos die große Mehrheit der Gesellschaft darstellt, zu vernachlässigen.


[Quelle: Päpstliche Enzyklika "Centesimus Annus", 1991]

Freitag, 1. Oktober 1971

Option für die Armen

"In einer Zeit, deren Hauptproblem der Gegensatz von Arm und Reich ist, mehr als der Gegensatz von Ost und West, kann die Kirche des Gekreuzigten nur auf der Seite der Armen, der Entrechteten, der Leidenden stehen."

(Joseph Ratzinger: Der Priester im Umbruch der Zeit. 1969. Zitiert nach: Gesammelte Schriften XII, Freiburg 2010, S.400)